Sammlungen mit Nutzen betrachten: Akteure geowissenschaftlicher Sammlungen um 1800 und ihre epistemischen Praktiken

Sammlungen mit Nutzen betrachten: Akteure geowissenschaftlicher Sammlungen um 1800 und ihre epistemischen Praktiken

Organisatoren
Historisches Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Görlitzer Sammlungen für Geschichte und Kultur
Förderer
Deutsche Forschungsgemeinschaft
PLZ
02826
Ort
Görlitz
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
03.11.2022 - 04.11.2022
Von
Angela Strauß, Humanities of Nature, Museum für Naturkunde Berlin

Wer sammelte um 1800 Minerale, Gesteine und Fossilien – und zu welchem Zweck? Anknüpfend an die Forschungsfragen nach den Akteuren materieller Überlieferungen einerseits und deren wissenschaftlicher Semantik anderseits diskutierten die Tagungsteilnehmer:innen disziplinübergreifend das Zustandekommen sowie die Nutzung von Sammlungen.

Während die Forschungen zu botanischen und zoologischen Sammlungen in der Wissenschaftsgeschichte weit vorangeschritten sind1, blieb die Historiographie von mineralogisch-petrographischen Sammlungen oft auf die geowissenschaftlichen Fächer und Institutionen beschränkt. Herausfordernd bleibt neben dem Wissensbegriff der Terminus „Mineralien“. Der Quellenbegriff des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts fasste Gesteine, Minerale und Fossilien gleichermaßen. „Mineraliensammlungen“ ihrerseits beinhalteten diese drei Objektgruppen nicht selten bereits in fachspezifischen Teilsammlungen.

Die Wahl des Tagungsorts steht in einem Zusammenhang mit dem Wirken des Oberlausitzer Naturforschers Adolf Traugott von Gersdorf (1744–1807). Dessen Nachlass wird heute in Görlitz aufbewahrt und ist dort um einschlägiges Schriftgut ergänzt worden. Im Fall von Gersdorf liegen Reisejournale vor, die in einem am Historischen Seminar der Universität Münster angesiedelten DFG-Projekt – betitelt mit „Sammlungsbesichtigung als epistemische Praktik in der Scientific Community der Geowissenschaften zwischen 1765 und 1807“ – seit 2019 erforscht werden. Die Tagung „Sammlungen mit Nutzen betrachten“ diente dazu, die Projektthematik in einem breiteren europäischen Kontext und mit einem Fokus auf epistemische Praktiken zu diskutieren.

Die Projektbearbeiterin ANKE TIETZ (Münster) präsentierte im Laufe der Tagung die ersten Ergebnisse des Projekts. Mit Blick auf von Gersdorfs Dokumentationen zu Sammlungsbesichtigungen unterschied sie die aufgesuchten Sammlungen, nach der institutionellen Einbindung der Sammlungsbetreiber. Für die damit charakterisierte „Sammlungslandschaft“ waren die hybride Struktur sowie die Dominanz von Sammlungen privater Akteure kennzeichnend. Tietz vertrat die These, dass die Grundlagenforschung in den Geowissenschaften um 1800 weniger von akademischen als vielmehr von privat-forschenden Netzwerken profitierte. Ihre Auswertung der Reisejournale zeigte, dass Gersdorf auf seinen Reisen in besonderem Maße regional forschende Akteure und ihre Sammlungen rezipierte. Mit den Reisejournalen kolportierte er letztlich regionalgeologische Expertisen. In vergleichbarer Weise verfuhren Gersdorfs Zeitgenossen mit dem „materiellen Gegenüber“.2 Sie konstruierten mithilfe der mineralogischen, petrographischen und paläontologischen Proben Wissen. Die Praktiken der Wissenskonstruktion erörterten die Vortragenden an vielfältigen Beispielen.

Einen naheliegenden Bezugspunkt für die Tagung stellte das Sammlungswissen von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) dar, dessen Sammlung THOMAS SCHMUCK (Weimar) vorstellte. Wie auch in anderen Vorträgen der Tagung kam in diesem Fall die Sprache schnell auf die Bedeutung von Basaltproben. Am Basalt hatte sich Ende des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum der wissenschaftliche Disput über die Entstehung der Erde entzündet; Schmuck konnte angesichts der Überlieferungsdichte der Goethe-Sammlung sehr gut zeigen, dass die gesammelten „Steine“ in einer Abhängigkeit zu konzeptionellen Texten Goethes standen. Dieser hatte mittels einer Etikettierung eine Sammlungsordnung geschaffen, deren Systematik darauf ausgerichtet war, die Vorstellung einer „friedlichen Genese“ der Welt zu stützen. Das heißt, Goethe konnte nicht die Vorstellung einer Genese von Gestein durch Feuer zulassen, weil ihm dieser Prozess als zu explosiv und zu kriegerisch erschienen war.

Dass seinerzeit Sammlungen sehr weitgehend in die Wissenschaft ausstrahlen konnten, legte auch MARIANNE KLEMUN (Wien) dar. Ausgehend von Christian Friedrich Ludwigs „Handbuch der Mineralogie“ (1803) untersuchte sie die dort erwähnten „vorzüglichen“ Sammlungen.4 Viele dieser Sammlungen waren nach dem Ableben des Sammlers verzeichnet worden – wenn eben der Verkauf der Sammlung anstand. Mit dieser Ordnungs- und Verzeichnungsarbeit konnten sich Männer wie der Mineraloge Dietrich Ludwig Gustav Karsten (1768–1810) wissenschaftlich exponieren. Karsten und andere erhöhten über die Verzeichnungen ihre eigene wissenschaftliche Reputation und verschafften ihrer Mineraliensystematik – ein Feld in dem eine große Dynamik herrschte – im wahrsten Sinne des Wortes Sichtbarkeit. Der Sichtbarkeit einer Sammlung ging die Akquise der Proben voraus. Das Ziel, Sammlungsstücke über Sozietätsmitglieder zu akquirieren, charakterisierte die 1797 in Jena gegründete geowissenschaftliche Gesellschaft. Über das der Schenkungspraxis zugrundeliegende Prinzip „Naturalien gegen Ehre“ und die Rolle von Studenten referierte BIRGIT KREHER-HARTMANN (Jena).

Ohne Bezugnahmen auf Abraham Gottlob Werner (1749–1817) wäre eine Tagung über geowissenschaftliche Sammlungen der Sattelzeit schwer vorstellbar gewesen. Werner, der mehrere Jahrzehnte an der Bergakademie Freiberg als Lehrer für Mineralogie tätig war, gilt insbesondere im deutschsprachigen Raum als wissenschaftlich äußerst einflussreich, etwa durch seine vielfach zitierte Schrift „Kurze Klassifikation und Beschreibung der verschiedenen Gebirgsarten“ (1786). Über dessen an die Bergakademie Freiberg noch zu Lebzeiten verkauften Sammlungen sprach GERHARD HEIDE (Freiberg) und legte einen Schwerpunkt auf die Verschränkung von monetärem und wissenschaftlichem Wert, die unter anderem aus Werners Nachlassakten erkenntlich wurde. Heide nutzte überlieferte Etiketten Werners und dessen Auseinandersetzung mit der Systematik der Mineralien als Zeugnis seiner wissenschaftlichen Praxis. Spätestens hier wurde nochmals klar: Weder eine für Lehrtätigkeit noch eine wissenschaftlich genutzte Sammlung konstituieren sich lediglich aus den materiellen Artefakten, sondern auch aus Schriftzeugnissen mit zusätzlichen Informationen.

Die Diskussion der ersten Sektion konzentrierte sich nicht zuletzt auf die Vielfalt von Sammlungen unmittelbar vor dem Wandel bzw. von Sozietäten getragenen und gesellschaftlichen Sammlungen hin zu professionell und institutionell betriebenen. Diese Diskussion setzte sich über die Sektionsgrenze hinweg in den Ausführungen von ANNE MARISS (Regensburg) fort, die über die Sammlung von Johann Reinhold Forster (1729–1798) referierte. Forster – erst Weltreisender, dann an der Universität Halle Professor der Naturgeschichte und Mineralogie – nutzte seine geowissenschaftliche Sammlung für Forschung und Lehre und nicht zuletzt für seine wissenschaftliche Vernetzung. Forsters Sammlung existiert heute nicht mehr. Anders als bei den Sammlungen Werners und Goethes lassen sich somit die Sammlungsobjekte nicht mehr befragen. Es ließ sich aber anhand der schriftlichen Reflektionen der Besucher:innen ein Erkenntnisprozess im Zuge der Sammlungsbesichtigung nachvollziehen.

Wer wozu um 1800 geowissenschaftliche Sammlungen besuchte, war eine Frage, die auch von Annett WULKOW MORERA DA SILVA (Freiberg) thematisiert wurde. Wulkow Morera da Silva gab Einblicke in das Besucherbuch der Freiberger Bergakademie, das von 1769 bis 1820 geführt worden war. Auch sie versuchte, die Akteure zu kategorisieren und wies unter anderem auf Frauen hin, die im Gästebuch ihre Sammlungsbesichtigung dokumentierten – wobei Frauen nicht ausschließlich in Begleitung männlicher Familienmitglieder zur Besichtigung kamen, sondern sich mitunter auch zu weiblichen Besuchergruppen zusammenfanden.

Während in der ersten Sektion der zeitgenössische primäre Zugang zu den Sammlungen behandelt worden war –, das Erschaffen, Ansammeln und erste Ordnen – und in der zweiten Sektion der sekundäre Zugang in Form der Besichtigung – sozusagen die Revisitation –, ging es in der dritten und abschließenden Sektion um gegenwärtige Zugänge zu den Sammlungen. Zugang ist hier im doppelten Sinne gemeint: als Möglichkeit, sich die Sammlung anzusehen, aber auch, sie sich zugleich anzueignen. Wie komplex sich diese Aneignungsprozesse gestalten können, wurde in MARTINA KÖLBL-EBERTS (München) Vortrag über die Sammlungen des Eichstätter Priesterseminars deutlich. Sie stellte in einem chronologischen Abriss verschiedene Kontexte vor, in denen die Sammlungen zur Forschungsumgebung wurden. Womit, so kann nach dem Vortrag geschlussfolgert werden, die ICOM-Museumsdefinition „Forschen, Sammeln, Bewahren und Ausstellen“ als Kompass galt. Das jüngst in der ICOM-Definition ergänzte „Interpretieren“ kam in den letzten Jahrzehnten in Eichstätt zum Tragen, wo Vertreter:innen der Lebenswissenschaften und der Theologie über den Umgang mit Sammlungen und damit über das mittels der Sammlungsbestände generierbare Wissen verhandelt haben.4 Verständlich wurde in diesem Zusammenhang, dass der Zugang zu Sammlungen epistemische Autorität manifestiert oder destabilisiert.

Die Frage, ob die Digital Humanities den Zugang zu Sammlungen erweitern können, war ein weiterer wichtiger Bestandteil der Tagung. Am Beispiel von Alexander von Humboldt stellten CHRISTIAN THOMAS, AXELLE LECROQ und GORDON FISCHER (alle Berlin/Potsdam) in ihren Vorträgen digitale Recherchetools vor, die an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften entwickelt und erprobt worden sind. Bei diesen handelte es sich zum einen um die „edition humboldt digital“, zum anderen um ein Jupyter-Notebook, das Nachweise von Humboldts Korrespondenz aus internationalen Handschriftendatenbanken visualisiert. Schließlich präsentierten die Referenten ein Online-Karten-Tool mit dem die Aufenthaltsorte Humboldts in Raum und Zeit veranschaulicht werden können.

Wie sieht nun das Fazit der Tagung in Görlitz aus? Sichtbar wurde, dass Forschungen zu geowissenschaftlichen Sammlungen in der Sattelzeit mitunter von Quellen-Reichtum begünstigt werden. So können von der historischen Auseinandersetzung mit den Sammlungsstücken heute noch Sammlungsverzeichnisse, Korrespondenzen, Reisejournale und damit korrespondierende Objektetiketten, eine Vielfalt von Publikationen sowie Notizbücher und andere Manuskripte zeugen. Dabei ermöglicht eine solche Überlieferungslage, auch die Relevanz von heute kaum mehr bekannten Persönlichkeiten herauszuarbeiten. Der Tendenz, die Geschichte geowissenschaftlicher Sammlungen vornehmlich über Prominente wie Goethe, Humboldt und Forster zu erschließen, sollte noch deutlicher entgegengewirkt werden.

So oder so bedarf es weiterer empirischer Vergleiche. Da die Naturgeschichte um 1800 en vogue war, ist von einer noch größeren Anzahl von in diesen Jahren entstehenden Sammlungen mit geowissenschaftlichen Objektgruppen auszugehen als es der derzeitige Forschungsstand abbildet. Die Netzwerke der Akteure weisen jedenfalls deutlich über den deutschsprachigen Raum hinaus; Akteure und Praktiken der außereuropäischen Welt müssen stärker berücksichtigt werden. Im Anschluss an die Diskussion über die Akteure und deren jeweilige epistemische Praktiken müsste nun eine zweite Tagung folgen, in der stärker über Macht und Teilhabe an Sammlung und Sammlungswissen nachgedacht werden sollte.

Konferenzübersicht:

Jasper von Richthofen: Begrüßung

Sektion 1: Sammlungen als Orte der Herausbildung fachspezifischen Wissens
Moderation: Peter Suhr (Dresden)

Thomas Schmuck (Weimar): Die Steine zum Reden bringen: Goethes Arbeiten in seiner geowissenschaftlichen Sammlung

Marianne Klemun (Wien): Erdwissenschaftliche Sammlungen: Wissen, Kommunikation und Glaubwürdigkeit

Birgit Kreher-Hartmann (Jena): „Wir sammeln“ – Zur Ordnung und zum Gebrauch der Sammlung der Societät für die gesammte Mineralogie zu Jena im Spannungsfeld der Herausbildung einer Fachdisziplin

Gerhard Heide (Freiberg): Die Forschungs- und Lehrsammlung von Abraham Gottlob Werner

Sektion 2: Sammlungsbesichtigung als wissenschaftliche Praktik
Moderation: Ulrike Ludwig (Münster)

Anke Tietz (Görlitz/Münster): Sammlungsbesichtigung als wissenschaftliche Praktik in den Geowissenschaften um 1800

Anne Mariss (Regensburg): „Wie wollte ich mich freuen, Ihr Kabinet zu sehen…“. Wissenschaftliche Praktiken der Sammlungsbesichtigung in Johann Reinhold Forsters Mineralienkabinett

Christian Thomas (Berlin): Alexander von Humboldts Arbeitsnotizen in seinem Tagebuch von 1805. Eigene Sammeltätigkeit und Besuch geologischer Sammlungen in Italien

Annett Wulkow Morera da Silva (Freiberg): Wissenszirkulation im Montanwesen im Spiegel des Besucherbuchs der Freiberger Bergakademie

Führungen

Kai Wenzel (Görlitz): Das Kulturhistorische Museum Görlitz – Barockhaus Neißstraße 30

Steffen Menzel(Görlitz): Die Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften zu Görlitz

Sektion 3: Sammlungen neu ‚besichtigen‘
Moderation: Marie Feist (Münster)

Martina Kölbl-Ebert (München): Die Naturkundlichen Sammlungen des Eichstätter Priesterseminars. Sammeln, forschen, ausstellen, vermitteln und verstauben?

Axelle Lecroq (Berlin/Potsdam): Entdeckung der Korrespondenz Alexander von Humboldts durch Such- und Visualisierungsfunktionen

Gordon Fischer (Berlin/Potsdam): Chronotopische Studien zu Reisenden im 17. und 18. Jahrhundert

Anmerkungen:
1 Arthur MacGregor (Hrsg.), Naturalists in the Field. Collecting, Recording and Preserving the Natural World from the Fifteenth to the Twenty-First Century, Boston 2018; Felix Driver u.a. (Hrsg.), Mobile Museums. Collections in Circulation, London 2021.
2 Anke te Heesen/ Petra Lutz, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, S. 11–23, Köln 2005, S. 17.
[3] Christian Friedrich Ludwig, Handbuch der Mineralogie nach A.G.Werner, Bd. 1, Leipzig 1803, S. 321.
4 Martina Kölbl-Ebert, Geology and Religion. A History of Harmony and Hostility, London 2009.

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